Wäre das nicht wunderbar? Ein perfekte Stimme zu haben? Ein perfektes Wetter? Einen perfekten Mann (oder eine perfekte Frau, oder ein perfektes „diverses“)? Spätestens bei der dritten Frage wird klar: das gibt es nicht. Das ist kein resignierter Ausruf, sondern eine warmherzige Feststellung. Die Natur der Dinge verhält sich einfach nicht so. Wohin also mit unserem Anspruch auf Perfektion?
Das Wort der Stunde heißt mentales Upcycling. Verwandeln Sie Ihren Leistungs-an-spruch (übersetzt heißt das: Sie sprechen sich in einer Weise an, die innere Spannung erzeugt) in ein inneres Wohlwollen. Das geht nur, wenn Sie Ihre Erwartungen loslassen. Loslassen erzeugt Raum. In diesem Raum ist Entfaltung und paraxoderweise „Leistung“ wieder möglich. Diese Leistung wird nicht „gemacht“, sondern sie entfaltet sich auf eine natürliche Art und Weise. Ohne Druck und Zwang. Genau das ist im Stimmtraining fundamental.
So entsteht eine Haltung sich selbst und anderen gegenüber, die fließender und flexibler auf „Ungeplantes“ und „Unerwartetes“ im Leben antworten kann. Das ist das Gegenteil von „perfekt“, das laut Duden als „frei von Mängeln, vollkommen und nicht mehr änderbar beschrieben wird.“
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass dieses Loslassen nicht leicht fällt. Solange wir „perfekt“ sind, kann uns ja niemand angreifen. Jedenfalls reden wir uns das ein. Und wir brauchen uns nicht so zu zeigen, wie wir wirklich sind, mit unseren Stärken und Schwächen. Doch gerade diese Menschlichkeit macht uns unwiderstehlich und überzeugend, wenn wir unsere Stimme beim Sprechen und Singen einsetzen. Diese Menschlichkeit berührt und wirkt.
Gerne helfe ich Ihnen beim Loslassen. Es geht besser, wenn Sie dabei Begleitung und Rückhalt erfahren. Denn schließlich ist es so, als ob sich nach einer langen Zeit des Wartens und Festhaltens an der rauen Felsküste sich eine Muschel vom Felsen löst, an den Strand gespült wird und sich dort öffnet. Raten Sie einmal, was dann passieren kann? Im Inneren der Muschel schimmert eine kostbare Perle, einzigartig in Farbe und Form. Das ist Ihre Stimme, so kann Sie sein und in all ihren Klangfarben leuchten.
Der direkteste Weg zum Loslassen geht – wer hätte es gedacht?- über die Atmung. Wenn Sie einatmen, müssen Sie irgendwann loslassen und die Luft beim Ausatmen entweichen lassen. So haben Sie die Gelegenheit, bei jedem bewussten Ausatmen das Loslassen zu üben. Dazu können Sie innerlich zu sich sagen: ich atme ein, ich lächle – ich atme aus, ich werde leicht und frei.
Genau diese oder ähnliche Übungen machen viele Sänger und Sprecher vor ihrem Auftritt. Diese Gelassenheit ist die Grundlage dafür, dass sich auch Ihre Stimme sich zeigen kann, in ihrer individuellen perfekt unperfekten Strahlkraft. Dazu brauchen Sie kein Schauspieler zu sein, die Bühne des Lebens reicht vollkommen aus. Und sagen Sie jetzt nicht, Sie hätten für dieses bewusste Atmen (wenigstens ab und zu) keine Zeit…
Ein kleiner Nachtrag, um Missverständnissen vorzubeugen: beim Verzicht auf „Perfektion“ handelt es sich meiner Meinung nach nicht darum, dass wir uns mit dem „Erstbesten“ zufrieden geben müssen und das „alles egal“ ist. Sondern dass wir nur dann auf Dauer „gut“ oder sogar „exzellent“ in einer Sache sein können, wenn wir uns und die anderen dabei wertschätzen und so annehmen wie sie/wir sind. So könnte man den Song von Faiground Attraction „It´s got to be perfect“ wörtlich verstehen, denn er lautet so: it’s got to beeeee perfect, it’s got to beee worth it.“